Heimat unter Strom

16. April 2013 § 3 Kommentare

Wenn ich an meine Heimat denke, fallen mir als erstes die Stromleitungen ein. Es ist ein Land der Strommasten und Oberleitungen gewesen. Zahlreicher als Bäume, spannten sie sich durch alle Blicke, summte in ihnen der Wind, hing der Horizont an ihnen fest wie an einer Drachenschnur. Riesen aus Stahl hielten ihre Arme den Staren hin und knisterten bei Nebel überm Feld. Nach Westen verglühten abends die Schnüre und brannten sich in Netzhaut und Schlaf. Der Himmel hing voll schwingenden Drahts. Gegliedert in Rauten und Bahnen,ließ er sich halten von zirpendem Stahl. Morgens zogen Drähte die blaue Welle der Berge aus dem Rand der Ebene hinauf, ordneten Kabelläufe die Grenzen und Furchen der Äcker und richteten die Straßen und Feldwege nach ihnen aus, hielten die Güterzüge auf der Spur, striegelten und zwangen selbst noch die Schwärme der Krähen zur Formation. Von einem Ende der Felder zum anderen warfen sie Anker, hielten die Äcker zusammen, glätteten und hinderten die Ebenen am Auseinanderbrechen. Wasser störte sie nicht, gelassen widerstanden sie dem Strom von Kanälen und Bächen. Selbst in den Pfützen ließen sie Bruchstücke ihrer Ordnungen sehen. Im Sommer brannten ihre Schatten Striemen auf den Weg. Im Herbst kämmten sie Regen aus den Wolken. Dem Auge buchstabierten sie die Räume vor und die Weiten.

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§ 3 Antworten auf Heimat unter Strom

  • Lakritze sagt:

    Heimat ist, wo man Liebe manchmal wirklich erklären muß, weil sie sonst keiner versteht.

    Mich erinnert das: bis ich etwa sieben Jahre alt war, wohnte ich in einem Haus am Dorfrand. Auf den Oberleitungen hinterm Haus sammelten sich im Herbst die Schwalben; das war eine geschäftige Zeit.

    • Solminore sagt:

      Und am Ende bleibt doch ein unerklärlicher Kern, wie bei jeder Liebe.

      Bei uns gab es unglaublicherweise am Haus gegenüber ein bewohntes Schwalbennest. Das müssen sehr vogelfreundliche Nachbarn gewesen sein; sonst galt in meinem Heimatdorf nämlich der Grundsatz, daß alles abgeschnitten werden mußte, was irgendwie überstand, Dreck machte oder sonstwie nicht ins Vorgartenformat paßte.

  • […] nach Süden«, erklärten die Eltern, als das Kind fragte, warum jeden Tag mehr Schwalben auf den Stromleitungen hinterm Haus saßen. »Die erfrieren sonst im […]

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