L’après-midi d’un fièvre
26. September 2013 § Hinterlasse einen Kommentar
Die Stimmen sind fern und
die Straßen. Im Fenster der Himmel,
ein Winkel von Wolken
und Dächern.
An der Wand steht still eine Säule
von Licht, verziert mit den Schatten
von Laub.
Fernes Räderrollen;
Vor einer halben Stunde
ist in der Nähe
der Rotschwanz verstummt.
Die Kirchturmuhr vergißt
zu schlagen. Wo der Bleistift lag,
ist das Papier noch ganz weiß.
Leises Schimmern auf Holz.
Die Bilder blicken gen Abend.
Das Licht läßt sich aufsaugen
von der Wand, bis es
erlischt. Lautlos
tanzt ein Stuhlbein.
Noch einmal pfeift der Vogel, du hast
mir geschrieben, jetzt ist
alles fern, die Tage, die
Nächte, das Fieber, selbst diese
kleinen Tränen weint still
ein Fremder.
Zum Abend
29. April 2013 § Hinterlasse einen Kommentar
Wieder und wieder die Traurigkeit des Abends, wie die Stimmen sich verlieren, die Farben zerbrechen und absterben, wie die Blüten an sich selbst krank werden, die Straßen an die Häuser branden, in Unfrieden auseinandergehen. Da ist wieder der Drang, vor dir selbst wegzulaufen. Ein umgekehrter Horizont, ein nach außen gerichteter Sog, zentripetal aus der Mitte weg. Wohin? Weg. Nichts, was du schauen könntest, könntest du schauen ohne einer zu sein, der schaut. Wer immer das wäre, du würdest ich zu ihm sagen. Du kannst dir nicht entkommen, lauf, wie du willst. Es gibt kein Meer für dich, keine Insel, keinen Strom. Es wird nur immer und immer wieder einen Abend geben, der dich enthält und doch nein zu dir sagt.
Kein Nostos
18. Oktober 2012 § Ein Kommentar
Jedes Jahr aufs neue haben wir uns selbst verloren. Die Heimkehr war eine Heimkehr an einen unbekannten Ort und eine Vertreibung unserer selbst aus uns. Das Ende der Urlaubsfahrt bedeutete nicht allein, daß uns die Fremde nicht mehr besaß, sondern daß wir die Heimat, die wir selbst in uns fanden, wieder verloren hatten. So kam uns denn gar nicht wie Heimat vor, was uns an diesem sogenannten Daheim erwartete, die wir braungebrannt heim- und doch nicht heimkehrten: sondern wie Fremde an einen fremden Ort. Einen Ort der Verbannung.
Noch ein paar Tage schulfrei, noch ein paar heiße Sommernachmittage, ein Eis am Baggersee: Es taugt alles nichts. Denn es gibt nichts zu erwarten, alles es ist schon gewesen; der Duft von Sonnenöl ist keine Verheißung sondern eine Erinnerung. Die Tage, wie warm sie auch noch seien, sind nur noch ein Rest, der früh dunkelt. Morgens, beim Erwachen, heulen die Schwerlaster über die kilometerweit entfernte Autobahn, die in Fernen führt, die dich nicht mehr enthalten. Die Wände hallen, der Lichtschalter klingt hohl. Die Vögel haben sich versteckt, statt Aprikosen gibt es wieder Äpfel, und die Monate enden auf -r. Das Meer ist ein Jahr weit entfernt. Gräßlich.
Mit den Eltern im Wohnanhänger vier Wochen durch Süd- und Westeuropa gegondelt, die Alpen, das Mittelmeer, unendliche Sonnenblumenfelder, die leuchtenden Reihen laufen alle auf eine finstere Burg zu. Sonne, Wasser, Steine, Flechten, Gewürze, alte Mauern, die das Brennen der Sonne abhielten und gluckernde Kühlung schufen. Berge, echte Berge, eiskalt und so hoch, daß sie Schatten warfen. Von allem die Essenz, das Konzentrat der Empfindungen, bis ich mich selbst darin beheimatet und daraus schöpfend als Konzentrat meines Jungseins fühlen durfte.
Doch dann kam man wieder nach Hause und nicht nur in einen anderen Raum, sondern auch in eine andere Zeit, in eine fremde, nach allen Richtungen unpassende Jahreszeit, die weder Sommer war noch schon Herbst, eine Jahreszeit der Öde, wo die Berge runde Kuppen hatten, die Bäche kanalisiert waren, und alles in unendlicher Verdünnung bestand, bis man selbst sich daran erschöpfte und alle Essenz des Lebens zum Teufel war. Selbst die Nummernschilder der Autos, dieses blöde Weiß, die Farben der vertrauten Geldwährung, die Ortseingangsschilder, dieses dümmliche, gewöhnliche Gelb, wie trist war das. Nicht zu reden von der Sprache! Reichte es nicht, daß es kein Französisch mehr war, mußte es auch noch dieser zähneziehende Dialekt sein?
Mit Erstaunen haben wir damals immer festgestellt, daß es auch hier, in der fremden Heimat, so etwas wie Wetter gegeben hatte; daß die Zeit nicht stehengeblieben war, daß jemand Post ausgetragen, den Rasen gemäht, einen Baum gefällt hatte. Aber die hier geblieben waren, wußten nichts von der Sonne und den Alpengipfeln: Mit denen war zu reden. Selbst wenn sie Hochdeutsch gesprochen hätten. Fremd waren sie. Verständnislos glotzten sie über den Gartenzaun. Fremd war selbst noch die Luft, weil sie so schal schmeckte, und komische Fransen hingen am Himmel, strähnig und wie von Fett glänzend. Wir Heimkehrer und Asylanten, die wir ganz andere Himmel erprobt hatten, waren uns einig: die Farbe Blau hatte einen solchen Himmel nicht verdient.
Nach vier Wochen im Campingwagen befiel uns in Erwartung der hallenden Riesenzimmer der Wohnung eine agoraphobe Beklemmung. Wir verspürten das starke Bedürfnis nach Aufschub und Flucht: noch eine Nacht im Wohnwagen schlafen, auf dem Parkplatz in unserer Straße, und die Fremde noch ein letztes Mal, und sei’s als Illusion, in den vier so vertraut gewordenen Kunststoffwänden des mobilen Heims festhalten, ein Stück konservierter, hingehaltener, noch ein letztes Mal auszukostender Fremd- und Freiheit. Die Eltern, längst schlauer und desillusioniert, winkten ab.
Und wie wir uns dann in den Tagen, die der Nicht-Heimkehr folgten, zu trösten versuchten, mit guten Vorsätzen, die darauf abzielten, etwas von den erfahrenen Reichtümern der Ferientage in die Welt der Alltage hinüberzuretten und sich der neu gewonnenen Erkenntnis stets aufs Neue zu vergewissern, daß das Leben so perfekt sein kann wie ein Eis auf der Hafenmole von Menton oder der Biß des Gletscherwassers an den wundgewanderten Füßen; verzweifelte Versuche, es nicht auf sich beruhen zu lassen, und nach Möglichkeit der Umstände, so gut es eben ging, ein solches Leben wie das eben gekostete nicht nur als Pause zu führen, sondern als Alltag. Und so faßten wir dann unsere erbärmlichen Vorsätze, mehr rausgehen, öfter wandern, ausschöpfen, was das bißchen Natur im Rhein-Neckar-Kreis zu bieten hatte.
Schnell aber ermüdeten wir. Und es stellte sich heraus Der Baggersee war schon in Ordnung, Aber er war halt nicht die Côte d‘Azur, sein Wasser war schlammig, man konnte den Grund nicht sehen, es roch nicht nach Meer, und wenn man’s genau nahm, roch es nicht nur nicht nach Meer, sondern brackig. Abgestanden. Und so abgestanden begannen wir uns dann auch selbst zu fühlen. Abgestanden wie der Hausflur, die Winterklamotten und der ortsübliche Dialekt. Bis es schien, daß aus unseren Poren dieselbe Brackigkeit, dieser unfrische, laue Hauch des Alltags herausquoll. Mehr rausgehen, das hieß vor allem: Straßen. Und das Gefährlichste an den Flanken des Eichelbergs waren die Bremsen und die Pferdeäpfel.
Und so setzte denn auch, über die Wochen, während aus der falschen Jahreszeit endlich Herbst geworden war, der Verdünnungsprozeß nicht nur den Vorsätzen, sondern unserem Ekelgefühlt selbst zu, bis wir, selbst Verdünnte, unseren Mangel nicht mehr bemerkten und es eines neuen Sommers bedurfte, um uns uns selber wiederzuerfinden.
30. Mai 2012 § Hinterlasse einen Kommentar
Aufstehen mit dem Gefühl, daß dieser Morgen absolut keine Verwendung für mich hat.
Fragt sich, ob ich eine habe für ihn.
Der Tag und ich, wir haben uns auseinandergelebt. Wir wissen nichts mehr miteinander anzufangen. Wir leugnen einander. Und ringen dabei. Zu spät, zu früh, jedenfalls: verkehrt. Irrtum und Säumnis. Nachholen, mit Worten, was mit den Händen nicht gelang. Nach der Zeit werfen mit Phrasen. Den Rücken zur Zukunft, und auch darin noch scheitern.
Briefe in die Vergangenheit
6. Juli 2011 § 3 Kommentare
Daß Du mir nicht mehr schreibst, zu den Anlässen nicht, dazwischen sowieso nicht: Das schlimme daran ist nicht, daß ich das schlimm finde, sondern daß ich es nicht schlimm finde. Denn:
Was verbindet uns noch, außer der bloßen archäologischen Tatsache, daß wir mal ein Paar waren? Was Dich mit mir verbindet, kann ich nicht sagen. Was mich betrifft, so verbindet mich mit Dir eine Erinnerung, eine Vergangenheit, mit der ich nicht abschließen kann, und diese Vergangenheit ist in gewisser Hinsicht lebendiger als die Gegenwart (ich bin versucht zu sagen: lebendiger als Du jetzt für mich bist). So weiß ich gar nicht mehr, an wen ich eigentlich schreibe, wenn ich mich zu einem Brief an Dich hinsetze. Der Schreibtisch ist so leer, als hätte nie jemand dort einen Brief geschrieben. Es scheint mir, ich schicke Briefe an einen Menschen aus der Vergangenheit, Briefe, die, wie ich fürchte, mehr an meine eigenen Erinnerungen als an eine echte Person gerichtet sind. Und zurück sind zuletzt immer Briefe gekommen aus einer Gegenwart, über die ich rätsele und mir den Kopf zerbreche, ich verstehe sie nicht. Es scheint diese Gegenwart nicht meine Gegenwart zu sein, auf jeden Fall ist es keine, die uns beide gleichzeitig enthalten könnte. Ich kann diese erratischen Hinweise (Job; Kinder; Haus) und Informationsschnipsel zu keinem Bild eines Lebens zusammensetzen, und sagen: Das ist also Deins, so lebst du also, das bist Du. Es bleibt das alles ein Job, Kinder, ein Haus. Beliebig. Fremd. Isoliert. Nichts, woran Deine urpersönliche Sicht auf die Welt, Deine ureigene Bemühung, Dich darin zurechtzufinden, kenntlich würde. Nichts, worin sich sich ein Dein Du zeigen würde.
Und jetzt kommen gar keine Briefe mehr, keine aus der Gegenwart, weder verständliche noch unverständliche. Ich nehme es zur Kenntnis. Es berührt mich nicht. Ich habe lange vergebens auf einen Brief aus der Vergangenheit gewartet, aus unserer Vergangenheit, von einem Menschen, der noch dieselbe Zeit mit mir teilt. Von dort habe ich nie wieder etwas gehört. Deshalb kann ich nicht sagen, daß mir irgendetwas fehlt. Wir könnten uns nur immer wieder unsere eigene Geschichte erzählen. Vielleicht ist es besser, es zu lassen, weil es sinnlos ist und nicht guttut, und weil das Ende häßlich war, und unseren Briefwechsel einzustellen. Vielleicht hast Du diesen Entschluß bereits gefaßt, denke ich, vor einem Jahr und länger, vielleicht hast Du eines Tages, schon am Schreibtisch, lange nachgedacht und nichts gefunden, und den Federhalter sinken lassen, aus dem Fenster gesehen, in bewegtes Laub oder Sonne oder Schindeln anderer Häuser, hast geseufzt und den Kopf geschüttelt und Papier, Feder und Umschlag wieder weggeräumt, bist aufgestanden und hinausgegangen, und vielleicht warst das gar nicht Du sondern ich war das. Ich stelle mir eine leere, spiegelnde Schreibtischfläche vor und eine Tür, die ins Schloß fällt, rufende Stimmen, die dahinter verhallen, ein unbehaustes Zimmer. Wann haben wir das letzte Mal wirklich miteinander gesprochen?, frage ich mich, und dann finde ich es doch noch schlimm.
Melancolia veris
25. April 2011 § Hinterlasse einen Kommentar
In einer Art umgekehrter Entsprechung zum Wetter hält mich die Traurigkeit. Je bunter das Draußen, will mir scheinen, und dieser April ist ein teuflischer Ausbund an Buntheit, desto grauer das Innen. Nachts erwacht, die Decken sommerwarm, aufgestanden, Wasser laufen lassen und nicht mehr ein- noch ausgewußt vor Traurigkeit. Trau-grau-grauslich: Es sind diese schlimmen Stunden, irgendwann zwischen drei und vier Uhr, vor dem ersten Vogelton, der indes auch nicht tröstlich wäre, draußen die Nacht, die Welt, auswegslos, verschlossen, riesig, eine Steilwand aus Zeit und Raum ohne Betriebsanleitung, kein Vogel, die Nacht schläft, ich bin wach, und innen alle Bastionen und Wehre zerbrochen. Strom und Stau von ungebetenen Gedanken, derer ich nicht Herr werde. Gäste mit grimmigen Gesichtern hocken sie auf der Türschwelle, sitzen am Tisch, ziehen Bücher aus dem Regal, schütten das Blumenwasser weg.
Ein Zur-Unzeit-Sommer ist das aber auch! Grillgeruch am Abend. Autos mit offenen Scheiben, Wummern von Beat & Bass. Morgens bereits Sonnenschirme auf den Balkonen. Bunter April, heitere Menschen, tödlicher Pollen. Rätsel, Sphingen, Bögen mit aufgedruckten Losungen. Auf der Terrasse der Nachbarn holt man sich Nachtisch. Stimmen. Es sind viele Stimmen in der Luft dieser Zeit, ziellos und ungebeten, wie Ungeziefer aus Licht. Man sitzt und räkelt sich, ein Ellenbogen liegt sonnengecremt auf einer Sesselarmstütze, Buschwerk verhüllt die Gesichter, die Luft, warme, vogelstimmensatte Luft, ist voller Verbindungen, macht die Stimmen flugfähig, falter- und flatterfähig.
Was sind das für Leben, denke ich angesichts dieser Zurschaustellung fremden Mit-in-der-Welt-Seins, was sind das für Wege, Lebens- und Todeswege, was für Gesichter, Träume hinter der Stirn? Was für Opfer haben sie gebracht, um da jetzt zu sein, in diesem Haus, Nachtisch löffelnd, auf der Terrasse, ahnungslos und zufrieden mit dem Bunten um sie herum, was für Opfer, die ich nicht zu bringen bereit war?
Greinstraße
2. Februar 2011 § Hinterlasse einen Kommentar
Wie sanfte Akkorde ragen die Bäume auf und strecken die Äste in den Himmel, als träumten sie dem Beginn einer mächtigen Symphonie entgegen. Der Tag dauert und läßt sich Zeit beim dauern. Am späten Nachmittag die Sonne, selbst der Dunst beginnt jetzt zu leuchtet, das Astwerk verraucht in die Stille im Schatten des Uni-Centers.
Schläge von Baustellen erschüttern den Raum, klirren gedämpft durch die Scheiben. Zieht ein Bautrupp ab, trifft morgen ein neuer ein. Immer wird irgendwo Erde aufgebrochen, Leitungen versenkt, Absperrbänder entrollt. Gelbe Helme verschwinden in der Erde, von meinem Beobachtungspunkt aus betrachtet schweben und schwanken sie auf Augenhöhe. Es ist unklar, was da soviel gegraben wird. Aber sie graben. Überall. Mit Ameisenfleiß.
In der Dämmerung Leuchtspuren von Autos. In die Netzhaut gezeichnet, wo sie lange liegenbleiben. Ich denke mir, daß dies einmal die Zukunft war. Ich habe stapelweise alte Briefe durchgesehen, gestaunt über die fremde Hand, die einmal meine gewesen ist. Meine gewesen sein soll. Läßt es sich abstreifen, wie eine müdgewordene Haut. Sie ist müde geworden, diese Haut. Es ist einfach zuviel passiert. Zuviel, um noch einmal naiv zu sein. Zuviel gelebt, um in den Tag zu leben. Zuviel, um noch einmal lieben zu können.
Die Arbeiter graben und graben. Mittags leuchtet Butterbrotpapier in ihren schwarzen Händen. Ein Flachmann wird aufgeschraubt, macht die Runde. Der letzte schüttelt sich den übriggebliebenen Tropfen in den Mund. Jetzt graben sie wieder, die Helme auf Augenhöhe, ihre Schläge zerhacken den Abend. Ein Erdhaufen wächst daneben. Steine, verklumptes Erdreich, Stücke von Rohr, Blechsplitter, zerbrochenes Geschirr. Das Absperrband flattert rotweiß, wie ein Reigen spielender Tierkinder.
Hunde schlendern vorbei und lächeln voller Ernst mit ihren langen leuchtenden Zungen. Es gab sie schon immer. Sie waren da, als ich hier meinen ersten Tag hatte. Sie waren schon vorher da. Sie haben mich gleich erkannt, von früher. Viel früher. Vielleicht haben sie auf mich gewartet. Ich habe ihren schlanken Nacken damals bewundert mit dem schimmernden Fell, das seitwärts Schlenkernde ihres Schritts. Die Unbekümmertheit in ihrem Schnauben. Ich bewundere sie wieder. Ich hatte sie längst vergessen. Es ist unglaublich: Ich bin hier. Und wo soll ich auch sonst sein. Aber es ist unglaublich.
Dann kommt die Dämmerung. Die Nacht saugt das Gebäude leer. Oft habe ich an Fenstern leerer Gebäude gestanden wie ein Nachtwächer. Stimmen auf der Straße, die sich entfernten, nach Alaska, nach Boston, nach Hannover, nach sonstwo. Timbuktu, ich habe sie aufbewahrt, die Stimmen, die herrenlosen Worte, Bemerkungen, Rufe, Gekicher, ihr brauchtet sie ja nicht mehr.
Dies ist sie also, die erwartete, die herbeigeträumte, manchmal gefürchtete. Die spätere Zeit. So fühlt es sich also an, in einem Ausblick eingetroffen zu sein.
Bei solcher Witterung. 8:58
19. Oktober 2010 § Hinterlasse einen Kommentar
Bei solcher Witterung haben selbst die Blicke der Menschen im Zug etwas Nebliges, ja, Nebulöses an sich, versponnen, labyrinthfarben, nach innen gerichtet und doch die Umgebung im Blick, traumgefärbt vielleicht, als gäbe es da etwas, das uns, jene Frau und mich, die ich schon seit langem im Zug beobachte aus sicherer Distanz und der versteckten Warte beiläufiger Taxierung, das uns also schon von je verbindet, nur ich weiß es nicht, abgelenkt und verloren wie ich war an eine andere Erzählung, an ein anderes Licht. Die Felder eisgrau, ohne das Gewicht von Farben. Raben, die auf einen Acker niederfallen. Strommasten huschen lautlos vorbei. Der Blick sagt, hast du’s immer noch nicht verstanden? Und ein pastellenes Glänzen liegt da wie eine eingenistete Trauer in ihren Augen, ein Sog.
Sie verläßt vor mir den Zug, wobei sie mich mit diesem ballistischen Blick auffängt und gleich wieder fallenläßt, mit diesem knappen, zwischen Beachtung und beiläufigem Desinteresse schwankenden Streiflicht und Hast-du’s-noch-nicht, das Kinn ein wenig auf die Brust gesenkt, die Aufmerksamkeit jetzt auf die Lücke gerichtet zwischen Trittstufe und Bahnsteig, es ist eine Aufmerksamkeit, die ebenso beiläufig ist wie vorhin der Blick, und sich noch weitere Aufmerksam- und Beiläufigkeiten vorbehält. Ihre hohen Stiefel machen kleine Geräusche jetzt schon auf dem Bahnsteig, auf den angefeuchteten Steinen, Geräusch wie von solchen Schritten, die sich eine nächtliche Straße hinunter einsam entfernen, manchmal ein Holpern, wenn die Fußspitze beim Vorwärtsschwung noch einmal den Boden berührt, tänzerisch klingt das und elegant, klack klack kliklack, ihr violetter Mantel beginnt sich schon aufzulösen, das Haar glänzt wie von Kondenstropfen. Die Schultern spannen sich leicht, als wüßte sie mich vertrauensvoll hinter sich, wüßte meinen Blick auf ihr ruhen, der ihr auch wirklich folgt, wie sie, womöglich mit dem Bewußtsein, das ich sie nicht aus den Augen lasse, klack klack kliklack dem Treppenabsatz zur Dasselstraße zustrebt. Sie senkt den Fuß auf die erste Stufe, neigt ein bißchen den Kopf vor, vorichtig, hat ein Taschentuch hervorgezogen, schneuzt sich die Nase, schnieft, der Nebel, die Kälte, das Herbstzittern, ihre Gestalt schon eingetrübt, senken sich die Schultern auf der Treppe, bereits die einer Fremden in einer Menge weiterer Fremder, eine auf und ab wogende Isokephalie unter dem Stahlbogen, wo jetzt das feuchte Gleiten einer Taube den Stahlschatten des Bahnübergangs entkommt. Die Treppe saugt die Menge an sich, unten erklingt das sanfte Gekreisch einer bremsenden Straßenbahn, der Zug schickt zwei rote Rücklichter aus der Kurve zurück. Das Bahnhofsgelände hat sich geleert; eine Zigarettenkippe qualmt in der Nässe, ein Papiertaschentuch leuchtet weiß auf dem Perron, die Taube entfernt sich flügelklatschend und verschwindet in der Silhouette der Platanen, und als ich wieder zur Treppe sehe, wird sich die Fremde kein zweites Mal nach mir umgedreht haben.
Paul-Schallück-Straße
21. Oktober 2009 § Ein Kommentar
Es gibt nämlich keine Paul-Schallück-Straße mehr. Klar, der Stadtplan. Der kann viel erzählen. Stadtpläne wissen aber nichts von den Orten, die sie abbilden. Stadtpläne sind blind. Du betrachtest sie, folgst vielleicht mit dem Finger (das hat etwas Hingebungsvolles, das gefällt mir, ja, aber), mit dem Finger folgst du vielleicht dem Geschlängel eines Weges, wobei du dir vornimmst, den gehe ich demnächst, bald oder nächstes Jahr, oder wenn wieder Herbst ist, so wie früher, denkst du, und dabei stellst du dir Landschaften vor, die du aus den ins Abstrakte projizierten Angaben der Karte wieder in die Wirklichkeit zurückformst; aber so ein Herbst kommt ja doch nicht, auch kein ähnlicher, und auch der Weg, den du meinst, den die Karte aber nur abbildet, ist verschwunden; oder du pochst auf eine Stelle, eine Kreuzung vielleicht oder einen Abzweig, den du mal verpaßt hast, oder etwas, das ganz unscheinbar ist, und das dir nur dadurch wichtig wird, daß da mal jemand stand und lächelte, an einer öden Häuserecke, oder dir entgegenkam, auf dich gewartet hatte, oder einfach nur in deinen Gedanken war und dort mit dir und hineingespiegelt in die Wirrnis eines Unortes, auf den du jetzt, mühelos wiedergefunden, deinen Finger legst: Wie auf etwas, das sich orten und festhalten ließe. Als wäre dieser Ort nicht vielmehr in dir selbst als auf irgendeiner Karte zu finden. Du trägst ihn mit dir herum. Die Karte weiß nichts, sagt Paul-Schallück-Straße, sagt Hier, aber sie hat keine Ahnung.
Wer Paul Schallück war, das haben wir auch nie herausgefunden, nicht einmal versucht haben wir’s, jetzt ist es egal, denn die nach ihm benannte Straße, auch so ein Ort, gibt es ja nicht mehr, Stadtplan hin oder her, leg nur deinen Finger drauf, hier das Justizgebäude, dort der Supermarkt, dort die Eisenbahnlinie (das Quietschen nachts, wenn die Güterwagen herumgeschoben wurden, wir mochten das beide, diese nahe Ferne, die Stimmen hin und her, Geräusche wie Reise und Unterwegssein, wir lauschten dem, brauchten nichts zu reden, schmiegten uns aneinander, draußen rumpelte es manchmal, dann herrschte die Stille der weiten Welt, Bahnhöfe, Häfen, die Laternen des Aufbruchs, der immer gemeinsamer Aufbruch war, sein sollte, gewesen wäre), leg nur den Finger drauf, versuchs nur, es ist dort nichts, nur der Name ist geblieben, von Bahnhöfen und Häfen und Schalterhallen, das bedruckte Papier. Wir waren kaum je gemeinsam unterwegs. Hättest du ihn schon gefunden, nur weil da der Name steht? Später bist du noch oft dort entlanggegangen, hattest dummerweise was vergessen, mußtest in den Supermarkt, hieltest den Kopf gesenkt, um ihr nicht zu begegnen, fragtest dich jedesmal, ist sie zuhause, in unserem ehemaligen Heim, da drüben, das Fenster fast sichtbar durchs Ahornlaub, steht sie jetzt hinter diesen Spiegelungen, die ein Stück Himmel mit Wolken darin, mit Wind darin, heruntersaugen, unsichtbar ihr dunkles Haar, spielt sie Klavier, die Töne beinahe bis hierher hörbar, wäre der Wind nicht, die Schritte der Leute nicht; oder tritt sie am Ende noch gerade jetzt heraus, um dir zu begegnen und wieder nichts zu sagen zu haben, nur ohne Quietschen diesmal, ohne Schmiegen. Einmal hin, wieder zurück, diesmal ihre vermeintlichen Blicke, ihr Zögern und Ausweichen im Rücken. Ging sie vielleicht einmal hinter dir, langsam, damit eure Wege sich nicht kreuzen müßten, du sie nicht bemerken würdest, wenn du dich umdrehtest?
Und wußtest nicht, sooft du dort vorbeigingst, daß es diesen Ort ja schon längst nicht mehr gab. Glaubtest sie dort oben, dabei war sie schon längst ausgezogen. Fürchtetest und ersehntest ganz umsonst ihre Begegnung.
Du drehtest dich nicht um, nie. Sie auch nicht, das war nicht ihre Art. Auch Abschiede nicht, waren nicht ihre Art. Ebensowenig wie ein großes Wort, ein Wort, das den Mut hätte, Großes zu sagen, nein. Wegdrehen, weggehen. Jetzt ist dieser Ort verschwunden, der Ort, der uns noch kannte, und wer Paul Schallück war, ist abermals unbedeutend, hier ist nichts nach ihm benannt, wie schnell Karten veralten können, nicht? Da zeigt das Blatt noch diesen Straßennamen, dabei … Da gibt es doch nichts. Man kommt dort nirgendwo aus, man verläuft sich, macht noch ein paar Schritte, hat einen Gedanken, verheddert sich, hascht nach einer Erinnerung, die dir plötzlich, aber sie ist schon weg, und im nächsten Augenblick bist du im Kreis gelaufen und wieder dort, wo du seit einiger Zeit schon dich aufhältst. Zuhause bist du nicht, hier nicht und dort nicht, und die Paul-Schallück-Straße gibt es nicht mehr. Am Ende, beim letzten Blick aus dem Fenster dieses Ortes, den es nicht mehr gibt, waren die Blätter des Bäumchens auch gelb. Vielleicht hast du noch das Laub dieses Ahornbäumchens wehen sehen, auf einem deiner vielen Gänge in dieses Abseits jedes möglichen Raums, hinter der Häuserecke hervor, Blätter, die aus einer imaginären Richtung herausfallen, in den irrealen Vektor des Lichts geraten, wo sie aufblitzen, Blätter, deren Wirbel vom Schatten verschluckt werden, über den Boden rascheln, still sind. Immer mehr Blätter, die vor deinen Füßen liegenbleiben.
Dieser Ort ist mehr als er selbst, und darum so unzugänglich, daß es ihn nicht gibt, unaufholbar. Gleich einer Karte zeigt er Namen und Bilder, eine Täuschung, steht er an der Kreuzung potentieller Vielfacher von ihm selbst. Unsortierbar und unzerlegbar die Folien, die über ihm und über einander liegen, aus deren höherdimensionaler Interferenz etwas entsteht und immer weiter wirkt, das für immer einen Raum im Außerhalb von allem einnimmt. Indem er über sich selbst hinausweist, bleibt der Ort unerschöpflich. Eine Ahnung zieht dich immer wieder hier hin, als könntest du dich in diese Dimensionen auffächern und darin herumgehen, aber selbst wenn … Was würdest du sehen, was doch immer nur im Sehen verhaftet bliebe?
Heute warst du wieder im Park mit den Photonegativen. Wie dunkel ihre Stirn leuchtete. Wie hell die Augen, als könnten sie, solche Augen, als einzige sehen, den Ort, wie und wo er wirklich ist oder war oder sein wird.
Nach Hause
30. August 2009 § Hinterlasse einen Kommentar
Das Nachhausekommen gelingt nicht mehr. Du steigst aus dem Zug, gehst die stillen Straßen hinunter, schließt die Tür auf. Zuhause bist du nicht, lange nicht, lange nicht mehr gewesen. Trauer, wieder Trauer. Worüber? Über einen unnennbaren Verlust. Ohne Wortweiser. Die Gedichte rühren zu Tränen, aber du betrachtest sie von einer anderen Welt aus, von deiner Warte des Verlorenseins, und drüben, die Worte, die von je du kennst, sie haben sich aus dem Wirklichen gelöst, in das du auch eingebettet sein durftest, einmal, jetzt aber nicht mehr. Jahre und Jahre und Licht, den Duft der Tannen in der Nase, die Krähen, die Felder, an deren Stoppeln sich das Licht bricht, in die Ferne hinein, die dich immer auch enthielt, ein Stück weit, deine Ferne war, aber erst jetzt, wo du das kennst, bedeutet es etwas. Und auch dieses hast du verloren, wie die Heimat der Gedichte, an irgend einer Wegkreuzung hast du dich aufgemacht, aber wann das war, das bekommst du einfach nicht mehr zusammen, oder wo, fassungslos blätterst du die Tagebücher auf, da steht sie, die Jahreszahl, das Datum, aber wann das war? Nicht einmal deine eigene Schrift ist das doch noch, so krakelig, so steil und stolz, das sollst du geschrieben haben? Woher denn dieser Stolz? Nein. Das ist weg. Weg wie die Pfade, wie die Abenddämmerung, die Heimkehr, ja, die Heimkehr, dieser langsame Schritt in ein warmes Licht von Stube und Sorglosigkeit, Duft und Lernendürfen und Ruhe, dieses Nachhausekommen, das dir, egal, wo du wohnst, gleich wie die Laternen, die Fenster, die Eulen oder die Bahnen der Fledermäuse beschaffen sind, gleichwie, nicht mehr gelingen will, einfach nicht mehr gelingt.