Kletterbäume

9. Dezember 2010 § Hinterlasse einen Kommentar

Was wir unseren Kindern an Lieblosigkeit, Zeitmangel, Angst und Druck zumuten, das wird, denke ich, später mal auf uns zurückfallen, das kommt wieder, mittles jener Welt nämlich, die die von uns so Behandelten dann über uns verhängt haben werden, weil sie so geworden sind, wie wir sie in unserem marktrelevanten Denken geformt haben. Und wehe uns, wenn dann die Kriterien der Marktrelevanz auf uns angewendet werden – von denen, denen wir diese Denke eingetrichtern haben, als sie klein waren.

Ich empfinde eine tiefe Trauer darüber, was heutigen Kindern im Vergleich mit unserer eigenen Kindheit fehlt und stattdessen zugemutet wird; eine Trauer darüber, daß eine Kindheit, wie wir sie hatten, heute nicht mehr möglich ist. Was haben heutige Kinder, was uns fehlte? Das Internet, na ja.

Die Trauer über solchen Verlust paart sich mit einer heißen Wut auf jene, die mit allen möglichen Überlegungen, Maßnahmen, Entscheidungen, vorgeblich ganz im Dienst ihrer Kinder, genau diesen Verlust herbeigeführt haben. Entweder wollen diese Leute in Wahrheit gar nicht das Beste für ihre Kinder, oder unsere Vorstellungen darüber, was für Kinder das Beste ist, decken sich nicht ganz, um es vorsichtig zu formulieren. Man meint es vielleicht gut, aber was für eine Haltung zum Leben, welche Auffassung von Erziehung, ja was für eine Art von Beziehung zum eigenen Kind spricht aus einer Phrase wie „Kinder fit für den Markt machen“? So sportlich hat sich allen Ernstes mein Bruder in seiner Diplomarbeit ausgedrückt (und sich von mir einen dicken Rotstriftstrich dafür eingehandelt!). Ich weiß nicht, ob ihm klar war, was er da geschrieben hat. Mir bleibt bei so etwas die Spucke weg. Ich bin ein Idealist. Ich habe ganz bestimmte Vorstellung davon, wie ein gutes Leben aussieht und welche Rahmenbedingungen dafür nötig sind. Ob das realistisch ist oder auch nur von irgend einem anderen Menschen geteilt wird, ob es andere Menschen und ihre Bedürfnisse überhaupt einbezieht, spielt für meine Ansichten gar keine Rolle. Ich halte eine Kindheit, die zum größten Teil draußen stattfindet, im Wald, auf Wiesen, in Gärten, ohne Verkehr, ohne technisches Spielzeug, am besten ohne Fernseher, für das beste. Und werde fürchterlich kiebig, wenn mir jemand mit Realismus kommt. Realismus ist was für Leute, die aufgegeben haben.

Wir leben paradoxerweise in einer Gesellschaft, die sich zwar ständig Gedanken um ihre Kinder und ihr Wohlergehen macht – dabei aber zutiefst kinderfeindlich ist. Über Kindererziehung gibt es stapelweise Literatur. In Talkshows wird über sie gesprochen. In Zeitungsartikeln wird sie problemastisiert. An Universitäten diskutiert. Eltern belegen darin Kurse. Und im Fernsehen treten Supernannys auf und verbreiten die frohe Botschaft sachkundiger Padagogik. Über Erziehung wird gestritten und debattiert wie über kaum ein andres Thema. An Ideen und Gedanken herrscht kein Mangel. Woran Mangel herrscht: Kletterbäume, Wiesenränder, Bachläufe, Gärten. Worauf es ankäme: ein Iglu bauen, Himmel-und-Hölle-spielen, einen Bach aufstauen, sich auf eine Wiese legen, Tiere sehen. Macht sich eigentlich irgend jemand Gedanken, was Kinder wollen? Nicht, was gut für ihre Zukunft und die Gesellschaft ist, sondern was Kinder sich wünschen? Zum Beispiel Fußball spielen. Nicht in einem Verein, nicht beaufsichtigt von Trainern und Leistungsdiagnostikern und Sportpädagogen, nicht zur Föderung der Motorik und des Teamgeistes, nein. Nein, wild: einfach so, spontan, ungeplant, ausgelassen und auf der Straße.

Man sieht überhaupt keine spielenden Kinder mehr auf der Straße. Als ich jung war, hallte unsere Straße nachmittagelang wieder von Stimmen, Rollschuhen, Hockeyschlägern oder Holzschwertern. Das gibt es nicht mehr. Entweder es ist viel zu gefährlich. Oder die Kinder sind dabei zu laut. Oder es gibt zu viel Verkehr. Oder es gibt zuwenig – andere Kinder … Statt dessen sind Kinder heute in drei Sportvereinen gleichzeitig, nehmen am Malkurs teil und lernen Klavier und Fagott und Buchhaltung und Blindtippen, und müssen schon mit acht Jahren einen kleinen Terminkalender mit sich herumtragen. Oder besser gleich einen PDA. Wenn man mich fragt, gibt es zuviel Literatur über Kindererziehung, zuviel pädagogisch wertvolle Spielplätze und viel zu wenig echte Kletterbäume.

Und oft denke ich: Eine Welt nach den Bedürfnissen und Wünschen von Kindern wäre für uns alle eine bessere Welt. Wir brauchen alle weniger Autos und mehr Kletterbäume.

Den Becher zum Grund

7. Dezember 2010 § Hinterlasse einen Kommentar

Daß der Becher immer bis zur Neige geleert werden muß, ich halte das für eins der größeren Hemnisse eines besseren Lebens. Der Verlust an Spielräumen umfaßt weit mehr als nur die Plünderung von endlichen Ressourcen, hat nicht allein ökologische Relevanz. Es ist ein Verhaltensmuster, das überall begegnet und neben materiellen Ausbeutungsverlusten auch einen inneren Verlust bedeutet: Den Verlust der Gelassenheit.

Jede neue Technologie stößt einen Handlungsraum auf, der stets bis in den letzten Winkel besetzt werden muß. Es genügt nicht, das Mobiltelephon bei Panne, Unfall und Gefahr zu benutzen, sondern die Möglichkeiten der allverfügbaren Kommunikation werden sämtlich geprüft und realisiert, von der Last-Minute-Verabredung bis zum Bussi vom Gipfel des Everest.

Wenn es doch schonmal da ist.

Und genau darum geht es. Es ist die ausbeuterische, versäumnispanische Mentalität des Wenn-es-doch-schonmal-da-Ist, die Spielräume, Reserven, Freistunden vernichtet und damit genau das unmöglich macht, was uns doch scheinbar so sehr am Herzen liegt: Das selbstbestimmte Handeln.

Oder ist es ein Zeichen von Eigenverfaßtheit, wenn ich ausnahmslos jede Möglichkeit einer Technologie nutze? Handele ich selbstbestimmt, wenn ich, statt alles einmal ruhen zu lassen, immer an die Grenzen gehe und mir selbst keine anderen auferlege, als die Technik sie mir zieht? Handele ich selbstbestimmt, wenn ich die Technik die Grenzen meiner Möglichkeiten bestimmen lasse? Handele ich selbstbestimmt, wenn ich auf einer Wanderung im schottischen Hochland nachts im Zelt liegend mobil nach Hause telephoniere? Oder unterwerfe ich mich da einem Zwang zum Tellerleeressen, zum Ausschöpfen aller Möglichkeiten?

Es mag harmlos sein, aber man darf vermuten, daß die Folgen solchen Ausschöpfens weiter reichen, als die Stille des schottischen Hochlands zu stören. Es gibt beispielsweise keine Straßen mehr, die ein lediglich latenten Bedürfnis, zwei Orte miteinander zu verbinden, befriedigt: Wo heute eine Straße ist, wird auch gefahren, und zwar ständig, als gäbe es den Zwang, dieses Streifchen Asphalt schon allein deshalb zu benutzen, weil es da ist. Das bedeutet nicht nur unmittelbar Lärm, Gestank und Aufmerksamkeitsforderung (durch die Gefahr, die von jedem rollenden Fahrzeug ausgeht); es bedeutet auch, daß die Straße als Lebensraum und Öffentlichkeit nicht mehr genutzt werden kann, weil ständig Verkehr herrscht. Es bedeutet, daß keine Kinder auf der Straße spielen. Und weil die Benutzung von Straßen den Bau weiterer Straßen nach sich zieht, bedeutet es eine allmähliche Verstraßung von Landschaft mit allen nervtötenden Folgen. Der Zwang zum Ausschöpfen beginnt im Kleinen und setzt sich im Großen fort. Gewinne zu machen ist schön. Aber es reicht nicht. Es muß nicht nur gewonnen werden, es muß so viel wie möglich gewonnen werden. Man nennt das Gewinnmaximierung. Die ihr zugrunde liegende Mentalität beginnt mit der Ruftaste des Mobiltelephons. Eine ausgefallene Verabredung muß sofort durch etwas anderes ersetzt werden. Und da das Mobiltelephon schnmal da ist, da könnte man doch …

Der Säufer muß den letzten Schluck aus der Flasche nehmen, auch wenn’s längst nicht mehr schmeckt. Und so ist es mit allem. Das Mobiltelephon ist immer mit dabei, es könnte ja was dazwischenkommen. Mit dem Auto erreicht man nicht schneller und bequemer zu Fuß erreichbarer Ziele, sondern der Radius des Erreichbaren wächst. Mit dem Auto kommt man schneller an Ziele, an die man vorher gar nicht gedacht hätte. Das Vorhandene wird nicht vereinfacht, sondern es nimmt zu, bis die Grenzen abermals erreicht sind. Brauchte ich eine Stunde mit dem Fahrrad, brauche ich jetzt immer noch eine Stunde, das Ziel ist aber dreimal so weit weg.

Immer an den Grenzen des Machbaren, ob es wünschenswert ist oder nicht: Wenn die Verfertigung eines Geschäftsbriefes statt früher eine halbe Stunde heute dank EDV-Anlage nur noch fünf Minuten benötigt, dann würde ein wahrer Zugewinn für Leben und Wohlbefinden darin liegen, die eingesparten fünfundzwanzig Minuten für die Lektüre eines guten Buches zu verwenden, oder sie bei einem gemütlichen Kaffee ganz gelassen zu verschwenden. Nicht zur Erhaltung der Arbeitskraft, nicht zum chillen oder networken, sondern einfach nur, um einen Kaffee zu trinken und sich zu freuen, daß das Leben schön ist. Das ist überhaupt etwas, das wir verlernt haben: Zeit zu verschwenden. Stattdessen schreiben wir in den gesparten fünfundzwanzig Minuten lieber sechs Briefe, haben nichts gespart und glauben auch noch, wir hätten einen gewaltigen Fortschritt gemacht. Umgekehrt bedeutet das zwanghafte Ausschöpfen des Möglichen eine Vervielfachung von Arbeitszeit. Weil es die Möglichkeiten gibt, müssen sie auch genutzt werden: Da ist es dann nicht mehr genug, einfach einen Brief zu schreiben, wie man ihn früher mit der Maschine geschrieben hat. Neue Technologie will eben ausgeschöpft sein, also müssen Fragen wie Schriftgröße, Schriftschnitt, Zeilenabstand, Einrückungen und weiß der Setzer nicht alles berücksichtigt werden, ehe man den ersten Buchstaben schreibt. Wer heute einen Geschäftsbrief schreiben will, braucht eine halbe Typographenausbildung. Nicht weil es komplizierter geworden wäre, einen Brief zu schreiben, das gerade nicht: Es ist einfacher geworden. Aber man man es sich nicht so einfach, wie es geworden ist. Sondern so kompliziert, wie es ein Ausreizen aller Möglichkeiten erfordert. Die Flasche will gelehrt sein, auch wenn’s nicht schmeckt.

Die besten Energiesparkonzepte bringen leider gar nichts, wenn man den Verbrauch anschließend so weit erhöht, wie er vor Einführung der Sparmaßnahme lag. Man läßt die Lampe länger brennen, weil man es sich leisten zu können glaubt. Es ist ja schließlich eine Energiesparlampe. Man fährt mehr und schneller Auto seit man einen geregelten Drei-Wege-Kat im 3-Liter-Wagen hat. Und dank Wärmedämmung hat man es jetzt bei 23 Grad Raumtemeperatur viel behaglicher als bei den gewohnten 20 Grad im unsanierten Altbau. Der Kühlschrank ist ein Energiespargerät, da drehe ich ihn doch gleich mal höher. Und mit der modernen Waschmaschine leiste ich mir vier Wäschen pro Woche, statt zu warten, bis die Trommel voll ist. Dummerweise funktioniert Energiesparen so nicht.

Ein Auto oder einen Computer für viel Geld erstanden zu haben, scheint für manche Leute absurde Folgen zu haben. Zur Mentalität des Wenn-es-schonmal-da-Ist kommt noch eine Logik hinzu, nach der ein teures Gerät möglichst oft benutzt werden muß, damit sich seine Anschaffung auch gelohnt habe. In einer schrecklichen Verdrehung von Ursache und Wirkung schafft so der Gegenstand seine eigenen Bedürfnisse, statt daß die Bedürfnisse zuvor nach dem Gegenstand verlangt hätten. Man geht täglich ins Schwimmbad, nicht, weil man es möchte, sondern damit sich die Jahreskarte lohne. Nicht, ob sich das Auto bei den bestehenden Bedürfnissen und Gewohnheiten lohnt, fragt man sich, sondern man schafft es an und fährt danach herum, als gelte es das Leben.

Was wäre selbstbestimmt? Das Auto stehenlassen, einmal schweigen statt reden, Zeit verschwenden, zu Fuß gehen, einen Termin versäumen. Kaffee trinken, ein Schwätzchen halten und sich freuen, daß man auf einem Planeten lebt, auf dem es Schokolade gibt. Verzichten; und dabei gewinnen. Gewinnen an Ruhe, an Gelassenheit, an Selbstbestimmung. Selbstbestimmt die Technik nutzen, das wäre: Mindestens die Prüfung der eigenen Bedürfnisse. Dann, das Erworbene in den Dienst dieser Bedürfnisse zu stellen. Und alles weitere gelassen zu ignorieren.

Keine Stille, nirgends

13. Oktober 2010 § Ein Kommentar

Selbst wenn man sie einmal gefunden hätte, die Oase der Stille: Es wäre nichts gewonnen außer einer tagfürtäglichen Ruhe, einer Ruhe, die nur vorläufig ist, nicht einmal von Tag zu Tag, sondern sogar von Stunde zu Stunde, ja von Augenblick zu Augenblick, eine Ruhe ohne Be-ruhig-ung, denn Sicherheit gibt’s keine. Selbst nach Jahren kann das Geräuschgrauen wieder zuschlagen, nichts bleibt ja in dieser Welt, die sich blindlings allem neuen, und sei es noch so bescheuert, in die Arme wirft, nichts bleibt ja, wie’s einmal gewesen ist, nicht einmal das Treffliche, nicht einmal das, womit man hatte leidlich leben können.
Abgelegene Orte geraten in den Sog der sogenannten Zivilisation, strukturschwache Gegenden wollen leider nichts lieber als strukturstark werden, was im allgemeinen nicht ohne Geräusche abgeht; öde Landstriche werden plötzlich von Ökotouristen entdeckt und von Outdoorsportlern heimgesucht, die meinen, draußen zu Hause zu sein. Findige Billigfluganbieter greifen auf Flughäfen auf der grünen Wiese zurück, weil billiger, was den Fluglärm auf der grünen Wiese nicht unbedingt mindert. Umgehungsstraßen machen ihrem Namen Ehr’ und umgehen, leider nicht die Wildnis, sondern die Ballungsgebiete, die man hinsichtlich von Lärm und Krach sowieso nicht retten kann: Warum also, bitteschön, auch noch die Wildnis beschallen? Da baust du dir dein Haus weitab jeder motorisierter Zumutung, nur um nach zwei paradiesischen Jahren herauszufinden, daß eine neue Autobahn geplant ist, deren Trasse zweihundert Meter hinter deinen Apfelbäumchen verlaufen wird. Stille hört sich anders an.
Oder auch: Ruhige Mieter ziehen aus, weniger ruhige Mieter ziehen nach; nebenan wohnt plötzlich jemand, der Schlagzeug übt, während unter dir die stille Handarbeitslehrerin eines Tages beschließt, sich das Violoncellospiel anzueignen. Selbst für einen Liebhaber des Cellospiels sind die ersten Gehversuche eines Anfängers auf einem Streichinstrument meist kein reiner Hörgenuß.
Und noch weniger zu vermeiden: Die Natur des Lebens selbst. Irgendwann sind aus den liebreizenden Nachbarskindern nicht mehr ganz so liebreizende Teenagergören geworden, die ihrerseits den Liebreiz von Geräuschen entdecken, die du nie im Leben als Musik bezeichnet hättest. „Zimmerlautstärke ist, wenn ich drüben nichts mehr höre“, denkst du dir, fassungslos, daß das andere anders sehen.
Von Wohnung zu Wohnung, von Haus zu Haus: Schlagzeuger gegen Heavy-Metal-Fan eingetauscht. Von der Stadt aufs Dorf, Autoverkehr gegen Schützenvereinrumtata gehandelt. Vom Dorf aufs Land, Traktoren und Kreissägen statt Schützenvereinrumtata. Wohnwagen im Wald: Sonntags die Ausflügler. Nein, es gibt kein Entkommen. Und jeder Raum der Stille ist nur von Augenblick zu Augenblick still. Jederzeit kann der Krach losschlagen, überall. Es gibt keine Anti-Lärm-Lobby. Es gibt Nichtrauchergesetze, aber keine Anti-Lärm-Gesetze. Würde man über die schalldichte Isolierung von Wohnraum genauso intensiv nachdenken wie über Wärmedämmung oder neue Straßen für noch mehr Autos, könnten wir wenigstens auf eine bessere Zukunft hoffen. Aber wo kein Problem ist, da wird auch nicht über Lösungen diskutiert. „Sie stören mich mit Ihrem Schweigen ja auch nicht.“ Und so sind wir, die Lärmkranken, die Geräusch-kann-tödlich-sein-Fraktion, überall heimatlos, Vertriebene, Nomaden auf der Flucht vor dem Lärm der Zeitgenossen wie vor unserem eigenen Gehör.

Im später, verrückt. Zwei Anmerkungen.

14. November 2007 § 2 Kommentare

Elsa schrieb:

„Ich mache mir darüber auch oft Gedanken. Setze die Zäsur aber so um 1989 an. (Vielleicht fällt das sogar um die Zeit deiner Griechenlandrückkehr). Ab da ist der Turbokapitalismus richtig durchgestartet. Wie du richtig bemerkst, begann da auch die Ära nicht nur der Globalisierung (die es ohne Eisernen Vorhang vielleicht gar nicht gegeben hätte?), sondern auch des ständigen VERWEISES auf die Globalisierung. Schnitt.

Ein Beispiel: Vor 25 Jahren besaß man als Geschäftsmann, der viel unterwegs und dennoch erreichbar sein musste, ein Autotelefon, so groß wie heute ein Multifunktionsdrucker zum Scannen, Kopieren und Faxen. Das war 10.000 DM wert.
Heute hat jeder Arbeitslose mindestens zwei Handys und ist ständig mit ihnen beschäftigt. Immerhin.
Turbokapitalismus, Globalisierung und IT-Zeitalter. Kann es sein, dass der komplette Thomas von Aquin mittlerweile online verfügbar ist? Und hat uns das irgendwie weitergebracht? Ich meine, in der gesamten Gesellschaft?

Es gibt auch inwendige Gründe. Vielleicht sind wir einfach zu alt. Zu früh geboren (insgesamt natürlich zu spät, aber hier an diesem Punkt zu früh) … weil, vielleicht heißt es ja in 30 Jahren, dass wir uns nach der Neuen Rechtschreibung zurücksehnen und den schönen Handys, die „nur“ telefonieren, online gehen, fotografieren und Textverarbeitung boten? vielleicht stehen wir in 30 Jahren mit Jugendlichen in einem Fahrstuhl, die anstatt via Handy zu surfen, kybernetischen Geschlechtsverkehr haben, während wir daneben stehen?
Vielleicht sind in der Zwischenzeit aber auch wirklich alle verrückt geworden und wir sträuben uns noch allzusehr, uns einfach zu ergeben?
ABER: Gab es dieses „Narrenschiff“- Bild für die Gesellschaft nicht bereits vor Hunderten oder gar Tausend Jahren?
Also kann es nicht an uns liegen … :)))“

Du hast recht, daß es zu jeder Zeit Stimmen gab, die behaupteten, die Menschen seien verrückt geworden. Aber die Konsequenz daraus, nämlich die Vermutung, daß es dann wohl nur eine Frage der Wahrnehmung sei, was man als verrückt empfinde und was nicht, macht mich auf eine hilflose Weise zutiefst traurig. Denn dann gäbe es ja überhaupt keinen Maßstab mehr dafür, was vernünftig oder töricht, echt oder oberflächlich, ernst oder albern, bedeutsam oder banal, schön und häßlich ist. Dann ist einfach alles beliebig. Gleich gut. Egal. Macht was ihr wollt. Dann ist alles einfach nur Kampf, eine Schlacht, die diejenigen gewinnen, die am lautesten brüllen und die schrillsten Klingeltöne haben. Diejenigen, die in der Mehrheit sind, wie widerlich ihre Ansichten und Werturteile, wie gedankenlos ihre Wahl und Entscheidung für oder gegen etwas auch sein mögen. Es tut mir körperlich weh, wenn Menschen auf der Straße oder wo immer sie gehen und stehen in ihre kleinen silbernen Kästchen sprechen. Es ist nicht einfach nur, daß ich das dumm und überflüssig finde. Es macht mich krank, mitansehen zu müssen, wie alle, ausnahmslos alle, vom selben Wahn ergriffen werden; wie alle sich, unabgesprochen, darüber einig sind, wie die Welt auszusehen habe; wie niemand auch nur fünf Minuten einhält und einmal wenigstens eine wirkliche Entscheidung trifft, eine Entscheidung, der man anmerken würde, daß sie aus dem ureigenen selbstgegebenen Gesetz dieses Menschen entsprungen ist. Vielem von dem, was die Menschen so tun und lassen, scheint mir dagegen überhaupt keine echte Entscheidung vorangegangen zu sein. Man tut’s, weil’s halt alle so machen, Und weil es ja ach so praktisch ist. Die Idee, daß man aus sehr guten Gründen auf das Praktische auch verzichten kann, scheint niemand zu haben.

Was das Alter angeht, so spricht gegen Deine Vermutung, daß ich zu den Verrückten Menschen jedes Alters zählen muß; sie eint, nicht die Generation, sondern der Wahn selbst. Allerdings muß ich zugeben, daß ich das von Dir angesprochene Gefühl teile. Es ist nur eine andere Form des Grauens, über die auch noch zu sprechen wäre.

Meine Zäsur war übrigens 9 Jahre nach Deiner, also 1998. Ich habe jetzt noch einmal darüber nachgedacht und bin zum Schluß gekommen, daß es auch damit zusammenhängt, daß dies eine Zeit war, in der ich einige Ziele und Wünsche, die mich bis dahin geleitet hatten, ein für allemal verwarf. Das bedeutete, daß vieles für mich einerseits zwar irrelevant wurde, andererseits aber genau deshalb in kritischer Weise und mit unbeteiligtem Abstand beurteilbar. Vieles wurde dadurch leichter, aber ebenso viel wurde schwieriger (und quält mich bis heute). Genau an diesem Punkt begann mich zu ärgern, was vor der Zäsur möglicherweise noch als erstrebenswert für mich selbst gegolten hätte. Ein Auto zu besitzen und zu fahren, beispielsweise: Plötzlich war alles voll von ihnen, sie stanken, sie zeugten von Gedankenlosigkeit, Arroganz und Herrschaftswillen, sie nahmen mir die Vorfahrt und die Freude an der Bewegung. Das alles aber erst, seit klar war, daß ich nie eins besitzen würde. Möglicherweise würde ich heute auch das Internet für albern und verrückt halten, wenn ich nicht gerade im letzten Moment noch aufgesprungen wäre.
Es war ein Wertherscher Rückzug ins Innen, den ich damals vollzog; freilich ohne zu ahnen, daß das Außen mit aller Gewalt zurückschlagen würde.

Und damit bin ich bei Deiner entscheidenden Frage: Hat uns das alles weitergebracht? Die manchmal grandiose Kluft zwischen technischem Fortschritt und seiner Umsetzung zum Wohle des menschlichen Daseins ist mir einmal schlagend klar geworden angesichts eines Flugzeugs, das, behängt mit einer hunder Meter langen, buntbedruckten Stoffschleppe, auf der „Kodak“ oder „Fuji“ oder weiß der Geier was zu lesen war, seine trägen Runden über Köln zog. Es erschien mir plötzlich so widersinnig: Da hat es die Menschheit tatsächlich geschafft, so ein Stahldings zum Fliegen zu bringen (ich meine, zum Fliegen!), und dann weiß diese Menschheit nichts Besseres damit anzufangen, als eine bedruckte Stoffbahn daranzuhängen und ein paarmal damit über der Stadt Köln herumzuwedeln. Ich dachte: Würde morgen der Null-T-Transport oder die Zeitmaschine erfunden, würde man als erstes Null-T-Reisen zu den schönsten Stränden der Welt („… und abends sind Sie wieder zuhause!“) und Real-World-Abenteuerausflüge ins Mittelalter unternehmen. Ich meine also: Nein. Unsere ganzen Erfindungen haben uns nicht weitergebracht, außer vielleicht, das Leben hier und da angenehmer zu machen (aber nutzen wir die gewonnene Zeit?) – ich denke, das hast Du aber nicht gemeint. Es lesen bestimmt nicht mehr Menschen die Summa Theologiae, seit der Text online verfügbar ist. Freilich ist es für die, die sie ohnehin lesen würden, eine enorme Erleichterung. Aber ein größerer Schritt nach vorne dürfte für die Menschheit kaum dabei herausspringen.

stundenbuch, 5. April

5. April 2007 § Hinterlasse einen Kommentar

Ich will mir selbst gegenüber sanfter sein, nehme ich mir vor, die hände öfter ruhen lassen, weniger vergleiche anstellen, ins licht blinzeln, den rosmarin streicheln und an die nächste wanderung denken. es gibt so viele orte, an denen sich ein zelt aufschlagen läßt. Laß die anderen weiterhasten, sage ich mir, hier, in diesem augenblick, in einem vogelruf zwischen jetzt und jetzt, im fallen einer tür, weder auf noch zu, da bist du zuhaus.

aufräumen

8. Februar 2007 § Hinterlasse einen Kommentar

du fragst, wie es mir geht — ganz gut, glaube ich. ich bin immer vorsichtig mit beurteilungen meines eigenen zustandes, aber ich kann wohl sagen, daß es mir gut geht. die vorlesungszeit geht diese woche zuende, ein sehr schwieriges semester liegt hinter mir, ich habe die klausur gut bestanden und obendrein kann ich im frühjahr die magisterprüfung ablegen.

Gang

ich habe das gefühl, plötzlich wieder kraft zu haben, und die luft ist plötzlich leicht und herrlich zu atmen. nichts drückt mehr auf der brust, wie es so viele wochen — und das bemerke ich jetzt erst so richtig — mir wie stein, stahl und sturm den atem nahm. ich komme mit weniger schlaf aus, das laufen macht wieder freude, und ich mache mich langsam daran, ordnung in mein leben zu bringen. mein zimmer ist der anfang. aufräumen, ausmisten, umstellen, neu ordnen, licht in winkel fallen lassen, die jahre in staubigem dunkel lagen und zähen, hemmenden schleim angesammelt haben. ich wühle drin herum und bewege gegenstände, die so lange unbeweglich waren, daß sie eine todesstarrheit um sich verbreiten. ich puste, und der staub von jahren wirbelt davon und fängt plötzlich munteres licht ein. die fenster stehen sperrangelweit auf. alles soll hell und freundlich, sauber und warm sein, und dann wird es vielleicht auch wieder hell, sauber und freundlich in mir.

Lagrange

26. Januar 2007 § Hinterlasse einen Kommentar

festgefahren, toter punkt, beim schreiben, beim nicht-schreiben, beim denken gewiß, vielleicht sogar beim träumen. ich kann nicht zwei worte denken, ohne daß sich sofort das gefühl einstellt: da warst du schon einmal. mentales wiederkäuen könnte man es nennen, nur heraus kommt dabei selten etwas. nur wiedergekäutes, das nicht unbedingt, kaut man es länger wieder, besser wird. ich strampele und ziehe und zerre, aber es ist immer das gleiche lied: voraussagbares, neu geordnetes material, tabellarisches.
diesmal hab ich’s, diesmal hab ich’s, diesmal entkomme ich, dachte der hamster im laufrad.

Greinstraße

22. November 2006 § Ein Kommentar

vormittag. die bäume streifen den himmel, und das eigene antlitz schwimmt hohlwangig in den pfützen umher. wohin man auch geht. glockengeläut kratzt an den erinnerungen.
und gehen muß man viel, zwischen buch und buch. tastaturengeklimper. aufzüge. und wieder der mittag, schwer, schwankend, kopflastig vornüber geneigt. man dreht einen bleistift träge zwischen den fingern. keine stimmen für gemütlichkeit, ein singen, ein singen. abstoßende sirenen, die der fremde, dem draußen, der weite das entzücken stahlen. bitteres klebt an den illustrierten. feuchtkalt wellt sich das papier auf der toilette. nasse socken, kaltes laminat. spinnengeister erheben sich in den ecken, während der rücken schmerzvoll über der tastatur hängt.
die geschichten verhaken sich.
blut strömt zur leibesmitte, das ist immerhin schöne ablenkung. wärme, wallung, schwellung. um sich selbst kreisen und dabei alte worte wieder auspacken. das klingt wie: es war einmal. gemeint aber ist: so war es. das kann man sich nicht oft genug klarmachen. manchmal vergißt man das jetzt. weil das war nicht mehr gegenwärtig ist.
mich ängstigt die asymmetrie alles lebendigen, aller zeit. die zukunft nimmt stetig ab. die vergangenheit wächst linear. immer mehr gibt es zu erinnern. immer mehr zu wissen. immer mehr zu lernen. irgendwo las ich, daß die kunst des erinnerns in wahrheit eine kunst des gezielten vergessens sei. mit dem alter könne man immer schlechter vergessen. weshalb man immer weniger behielte.
so ist es wohl. alles tritt immer unmittelbarer an einen heran. und bleibt dort hängen. während man geht und geht und geht.
vormittag. und am himmel die zweige … die pfützen sagen nichts. schon gar nicht, wer mein spiegelbild ist.

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glaskugel

28. Juli 2006 § Hinterlasse einen Kommentar

Seit einiger zeit lebe ich in einer geschlossenen welt. In sich selbst zurückgekrümmt, ist sie unendlich begrenzt, und jeder weg in ihr führt unweigerlich dorthin zurück, von wo man aufgebrochen ist. Man geht und geht und geht, und steht schließlich doch wieder vor der eigenen tür mit nichts als staub in der hand und falten im gesicht. Manchmal eine spiegelung: dann sieht es aus, als gäbe es ein draußen, als fiele licht aus einem raum jenseits herein, aus gewaltigen hallen. Aber wenn ich rufe, empfange ich nur immer und immer meine eigene stimme. Das licht flimmert ab und an, als bewegten sich Menschen hinter glas. Gemurmel dringt heran. Ein räuspern, eine stühlerücken, ein scharren von füßen. Eine tür geht. Und plötzlich ist alles still und das licht starr wie ein uhrglas. Wie damals, wenn man fieber hatte, und die stimmen aus einer ferne im eigenen ohr kamen, die schritte der mutter aus der küche.
Wie lange bin ich schon hier? Manchmal kommt es mir vor, ein leben lang. Manchmal denke ich, die auswege und geraden linien waren nur eine illusion, ein jugendlicher irrtum, ein traum. Und wo hätte ich denn schon hinwollen?
Oder habe ich nur solange gebraucht, um zum erstenmal wieder zum anfang zu kommen? Oder: Die strecken von anfang bis anfang werden immer kürzer. Es geht immer schneller: Bald stehe ich vollkommen still.
Manchmal ein traum: Ich spüre eine hand in meiner. Eine kühle, feste hand. Ich erhebe mich. Ein atemzug streift meine wange, ein mantel knistert. Das fenster steht auf. Es ist ganz dunkel. Irgendwo springt ein wagen an, und eine stimme sagt: komm.

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III

22. Dezember 2005 § Hinterlasse einen Kommentar

sieh, was da ist. nimm einen kiesel aus dem bach, steck ihn in die tasche, trag ihn herum, bis er sich in die furchen deiner haut eingepaßt hat, bis er dein ist. nimm das licht aus dem gatter der zweige, häng es dir über die schultern, trage es. streiche die SCHWACHEN STUNDEN glatt. falte daraus ein knisterndes origami. und so tu es mit allem.
verwandle es.
vertraue dich dem gedanken an: du hast kein heim. daran erstarke.

die nächte tragen mal um mal masken vorm antlitz. wenn du nicht darunter blicken kannst, gib ihnen namen. (Träumerin, Muse, Göttin, Frevlerin, Täuscherin, Trost, Zorn, Keusche, ‚Eωσφόρa …)

nimm den duft der blumen, berühr ihn mit der zungenspitze. fahre dem schatten einer rose nach mit dem großen zeh. (lerne, selbst einen schatten zu werfen? ja.) schnuppere an den wasserlichtern auf dem tisch. laß dich in einem tautropfen zerkrümmen. konvex und konkav, überlege, was was war. hole atem, als trügest du einen lateinischen vers vor: mit staunen.
so viel leichtsinn braucht es mindestens. wenn du müde bist, so fordere den schlaf.

Wo bin ich?

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