… aber diese Fremden sind nicht von hier! (2), Rassismus

14. Dezember 2018 § Ein Kommentar

(In dieser Folge kommentiere ich einen Fragebogen zum Thema Rassismus, den die Online-Ausgabe von ZEIT Campus vor ein paar Monaten herausgegeben hat.)

Was ist überhaupt Rassismus? Unter diesem Begriff subsumiert der Fragebogen, wie ich meine, drei verschiedene Erscheinungen, nämlich den Rassismus im eigentlichen Sinn; dann das gute alte Ressentiment; und schließlich die Fremdenfeindlichkeit. Die drei Haltungen oder Verhaltensweisen sind fraglos miteinander verwandt, aber eben nicht identisch, und daher moralisch, psychologisch, politisch und soziologisch unterschiedlich zu bewerten. Ich möchte den Rassismus definieren als: die Folgerung relevanter Merkmale (wie Intelligenz) von irrelevanten Körpermerkmalen (wie etwa Hautfarbe). Man könnte diese Definition noch ausweiten auf alle -ismen (Sexismus, „Speziesismus“, „Ableismus“ und wie sie alle heißen), indem man das ihnen allen Gemeinsame bestimmt als: In einem bestimmten Kontext relevante Merkmale von im selben Kontext irrelevanten Merkmalen ableiten. So ist für die Ausübung des Berufs eines Hochschullehrers das Geschlecht irrelevant, bevorzugte Einstellung von Männern (oder Frauen) erklärt aber das Merkmal „Geschlecht“ (de facto) zum relevanten Merkmal. Das wäre Sexismus. Die Hautfarbe ist kein Kriterium dafür, ob jemand ein guter Student ist; gibt es eine statistische Schieflage in den Immatrikulationen zugunsten einer bestimmten Hautfarbe, könnte das ein Hinweis darauf sein, daß ein irrelevantes Kriterium an irgendeiner Stelle des Auswahlverfahrens Relevanz erlangt, die zur Benachteiligung führt. Oder die traurige Berühmtheit erlangt habende Äußerung der Prinzessin Gloria von Thurn und Taxis, der „Schwarze schnacksel[e] halt gern“, leitet das (potentiell relevante, etwa, wenn es um Bevölkerungswachstum oder die Ausbreitung von AIDS geht) Merkmal der Kopulationsfreudigkeit vom irrelevanten Merkmal der Hautfarbe ab. Das ist Rassismus. Unter radikalen Tierrechtlern gilt die Zugehörigkeit zu einer Spezies als irrelevantes Merkmal für die Frage nach dem Recht auf Leben und Unversehrtheit, wo nur das Merkmal „Leidensfähigkeit“ relevant sein soll. Das Schlachten und Verwerten von Tieren, nicht aber von Menschen setzt einen Unterschied in diesem Recht nach dem irrelevanten Merkmal „Spezieszugehörigkeit“ (Mensch auf der einen, Rind auf der anderen): Das ist Speziesismus.
Umgekehrt wird niemand von Speziesismus sprechen, wenn Gorillas das Führen von Fahrzeugen oder der Zugang zu höheren Bildungseinrichtungen verwehrt wird, denn hier ist das Merkmal der Speziesangehörigkeit eben nicht irrelevant. Ebenso ist es nicht sexistisch, wenn Frauen von der Samenspende ausgeschlossen sind und Männer vom Beruf der Amme. Ob ein Merkmal in einem gegebenen Kontext (Zugang zu Bildung und Beruf, Bürgerrechte, Anspruch auf Sozialleistungen und so weiter) relevant oder irrelevant ist, kann durchaus eine umstrittene Frage sein. So war es noch vor etwa 100 Jahren ausgemacht, daß es Menschenrassen gibt, die sich hinsichtlich Intelligenz und anderer wünschenswerter Eigenschaften unterscheiden, und nur wenige (weiße) Wissenschaftler hätten damals ernsthaft bestritten, daß „dunkelhäutigen Rassen“ Intelligenz, Organisationstalent, Arbeitsmotivation und anderes fehle, während die „weiße Rasse“ sich eben durch ein hohes Maß der vorerwähnten Eigenschaften auszeichne. Ebenso ist es noch nicht so lange her, daß Frauen als ungeeignet zur Absolvierung eines Hochschulstudiums galten, was mit biologischen Merkmalen (etwa vermeintliche Blutarmut im Hirn aufgrund der Menstruation) begründet wurde. So hanebüchen uns das heute vorkommt: Um die Beseitigung solcher Irrtümer und die Feststellung, daß das Menstruieren kein relevantes Merkmal hinsichtlich der Studierfähigkeit ist, mußte jahrzehntelang, wenn nicht jahrhundertelang, gekämpft werden. Und noch 1929 wurde der Psychiater Ernst Kretschmer für seine behauptete Korrelation zwischen Körpergestalt und der Neigung zu psychischen Erkrankungen für den Nobelpreis nominiert. Heute würde man die Hände überm Kopf zusammenschlagen. Aber man darf nicht zu streng sein: Das ist der Gang der Wissenschaft, und es war eben nicht unbesehen auszuschließen, daß ein solcher Zusammenhang existiert – man mußte erst herausfinden, daß das nicht der Fall ist. (Heute dagegen wehren wir uns so sehr gegen diese und ähnliche Möglichkeiten, daß für entsprechende Forschungsvorhaben niemals Gelder bewilligt würden; bestimmte Fragen, etwa die nach der Vererbbarkeit von Intelligenz, dürfen mitunter nicht einmal in der Mensa gestellt werden.) In anderen, weniger brisanten Zusammenhängen fällt es uns ja auch beispielsweise leicht, über geschlechtskorrelierte Fähigkeiten und Charaktermerkmale zu spekulieren, wie es etwa viel gelesene Bücher über die vermeintlichen Einparkschwierigkeiten von Frauen oder das Unvermögen von Männern, zuzuhören, mit Genuß tun. (Verpönt wären allerdings selbst in der Unterhaltungsliteratur Schriften, die, wenn auch nur spielerisch, beispielsweise die Frage zu beantworten suchten, warum Afrikaner besser im Speerwurf seien, im Schach jedoch regelmäßig versagten – so trennt der Zeitgeist das Erlaubte vom Unerlaubten, auch wenn beides eigentlich dasselbe ist) Und auch heute noch lassen sich in ernsthaften Absichten offene Fragen finden, in denen der Streit um die Relevanz von Merkmalen zum Ausdruck kommt: Sollten beispielsweise Männer als Hebammen arbeiten dürfen? Ist der Ausschluß von Männern aus diesem Beruf sexistisch? Sollten Frauen Soldatinnen werden dürfen? Ist das Merkmal „Geschlecht“ relevant für die Zulassung zur Hebamme oder zur Soldatin? Oder ein anderer Fall: Viele Fluggesellschaften stellen nur Flugbegleitpersonal mit einer Mindestkörpergröße ein. Ist das rassistisch? Biologistisch? Ist die Körpergröße relevant für die ausgeübte Tätigkeit? Im Sinne meiner Definition von diskriminatorischen -ismen hätte übrigens auch die Forderung, den Othello nur mit einem dunkelhäutigen Menschen zu besetzen, ihre Berechtigung, wenn es in diesem Streit nicht um etwas anderes ginge.
Es liegt nun auf der Hand, daß es Fremdenfeindlichkeit ohne Rassismus geben kann (Zur Frage, ob es auch Rassismus ohne Fremdenfendlichkeit gibt, komme ich weiter unten): Denn man kann gegen die Leute aus dem Nachbardorf, der nächsten Stadt, der Region jenseits des Heimatflusses etc. feindlich gesinnt sein, ohne daß diese Menschen sich in irgendeinem Körpermerkmal von den Menschen diesseits des Flusses, in der eigenen Stadt, im eigenen Dorf, unterschieden. In meiner Heimat gibt es sogar Vorbehalte zwischen Bewohnern einzelner Stadtviertel. Oder man denke an die Ablehnung vieler alteingesessener Berliner gegen die vielen Touristen aus Baden-Württemberg und an die Zurückhaltung, mit der manche Bayern (wie es heißt) Menschen jenseits der Alpenregionen begegnen – das ist Fremdenfeindlichkeit oder Xenophobie, nicht jedoch Rassismus.
Was sämtliche diskriminatorischen -ismen eint, ist, denke ich, das gute alte Ressentiment, der Vorbehalt. Jedem -ismus liegt ein Ressentiment zugrunde, aber nicht jedes Ressentiment ist ein -ismus. Ich kann Ressentiments gegen die Anhänger einer bestimmten Ideologie haben oder Ressentiments gegen Kunstwerke einer bestimmten Stilrichtung. Ich kann auch den Umgang mit Frauen (oder Männern) meiden, ohne Frauen (oder Männer) jemals verhöhnt, zurückgesetzt, begrapscht, benachteiligt, diffamiert zu haben – ich mag einfach nur den Umgang mit ihnen nicht. Dann habe ich ein Ressentiment, ein Sexist bin ich aber nicht. Ein Sexist ist auch nicht, wer lieber zu Ärzten (oder Ärztinnen) geht, sich eine Nachhilfelehrerin (oder Lehrer) wünscht und als Mitbewohner in der WG nur Frauen (oder nur Männer). Dasselbe gilt für den Rassismus. Ich kann mich einigeln und nur mit meinesgleichen umgeben; solange ich niemandem damit ideell oder konkret schade, ist das zwar bescheuert, aber nicht rassistisch. Mit anderen Worten, mit dem Ressentiment bin ich bei mir, mit dem -ismus gehe ich nach außen.
Aus meiner versuchsweisen Definition folgt auch, daß es Rassismus ohne Fremdenfeindlichkeit geben kann. Beispielsweise könnte jemand die Ansicht vertreten, rothaarige Menschen seien faul oder dumm; oder die Träger von Segelohren neigten zur Indiskretion; oder Menschen mit Plattfüßen taugten nicht als Talkmaster: Solche Urteile sprechen irrelevanten Körpermerkmalen Relevanz zu – sie sind rassistisch. Insofern die Rothaarigen, Segelöhrler und Plattfüßler nicht als Fremde wahrgenommen werden, ist das aber ein Rassismus, bei dem keine Fremdenfeindlichkeit involviert ist. Wer das nun abwegig findet, denke nur einen Moment daran, daß Linkshänder jahrhundertelang drangsaliert, „umerzogen“ und mit Argwohn betrachtet wurden (lat. sinister „link(s), das gleichbedeutende laevus hat auch keine freundlicheren Assoziationen); auch heute noch findet tagtäglich Diskriminierung gegen Linkshänder statt, die in äußerster Konsequenz zur Folge hat, daß Linkshänder eine geringere durchschnittliche Lebenserwartung haben als Rechtshänder. Auch die gesellschaftliche Benachteiligung von Menschen afrikanischer Herkunft in den USA wäre in diesem Sinne als Rassismus ohne Fremdenfeindlichkeit zu deuten.
Fremdenfeindlichkeit und Rassismus sind also voneinander getrennt zu denken.

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