An einem Frostmorgen

20. Februar 2018 § 3 Kommentare

Die Trauer, daß nichts bleibt: Manchmal ist der Sog der Zeit fast körperlich zu spüren. Die Bücher und Gechichten sind inzwischen Fluchträume. Nicht um der Zeit zu entgehen (auch das Lesen ist schließlich in der Zeit), sondern um die alternative Zeit innerhalb der Geschichte gegen die unerbittliche äußere Zeit zu stellen. Die Zeit in der Geschichte kann vieles, was die echte Zeit nicht kann: jederzeit angehalten und wieder aufgenommen werden; sich beliebig oft (eingebettet in die reale Zeit) wiederholen; sich dehnen oder beschleunigen (relativ zur einbettenden Zeit); Schleifen beliebiger Länge bilden.
Nur eins kann sie nicht: rückwärts laufen und den Gang der Geschehnisse ändern.

Was sind Erinnerungen? Habe ich das, woran ich mich erinnere, wirklich erlebt? Kann ich an meinen Erinnerungen zweifeln? Wahrscheinlich muß ich es sogar. Aber was für ein Zweifel ist hier gemeint? Der Wahrheitsanspruch der Erinnerungen, daß sie etwas abbilden, das wirklich geschehen ist, und daß sie es so abbilden, wie es geschehen ist. Und in der Reihenfolge, im Verhältnis zu anderen (Erinnerungen von) Geschehnissen. Aber wie wirklich ist die Vergangenheit? Ist sie überhaupt wirklich? Man könnte sagen, die Vergangenheit muß wirklich sein, insofern sie die Summe von Vorläufergegenwarten zur aktuellen Gegenwart ist, als notwendige Folge von Weltzuständen, die zum jeweils aktuellen Weltzustand geführt hat. Auch meine Erinnerungen sind dann das Ergebnis einer Folge von Weltzuständen, zu denen neben der äußeren Wirklichkeit auch die Wirklichkeit meines Wahrnehmungs- und Gedächtnisapparates gehört.

Solche Überlegungen machen nichts leichter, im Gegenteil. Solche Überlegungen zerren an den Fundamenten, am sicheren Grund dessen, was Dasein heißt. Dasein heißt, zu ignorieren.

Den eigenen Erinnerungen beikommen. Das Unverfügbare zu einer Geschichte formen. Vielleicht ist nichts wirklich außer Geschichten. Damit würde ich meinen Erinnerungen erst Dasein verleihen, wenn ich sie aufschreibe. Mit diesem Akt des Aufschreibens und Veräußerns entsteht indes etwas, das sich von den Erinnerungen vollständig gelöst hat und unabhängig von ihnen existiert. Erinnerungen lassen sich nicht verlustfrei digitalisieren. Sie lassen sich nicht einmal zuwachsfrei, zuwucherungsfrei, verfälschungssicher festhalten. Im Aufschreiben entsteht grundsätzlich etwas Neues, zu dem die Erinnerungen nur die Vorlage liefern. Etwas Neues, das wiederum selbst, weil das Schreiben und Sich-Erinnern ja auch innerhalb der Zeit stattfindet, neue Erinnerungen hervorbringt (an den Akt des Schreibens und Wiederlesens nämlich).

Ein Moment, ein beliebiger, aber dieser, dieser eine, am frühen Morgen. Frostgewölk über einem verschrumpelten Berghang; zwei Amseln im kahlen Flieder; ein gelber Schnabel leuchtet anstelle von Blumen; Rauch aus Kaminen, wie die Nachahmung von Vögeln; Heizungsluft läßt eine Gardine leise wogen. Auf den Knien summt der Rechner. Die Amsel fliegt davon.

Das ist nun dieser Augenblick gewesen. Werde ich mich anders daran erinnern, jetzt, wo ich etwas darüber aufgeschrieben habe? Ein Zeichen, so eine gängige Definition, ist etwas, das für ein anderes steht. Wörter, die für meine Erinnerungen stehen. Aber das ist nur die Hälfte der Wahrheit. Denn das, wofür ein Zeichen steht; das, was ein Zeichen nur zusammenfassen kann: ist ja soviel mehr als das Zeichen. Und umgekehrt kann ein Zeichen, durch impliziten Verweis, Aufruf, Ausstrahlung so viel mehr sein als das, wofür es steht.
Zeichen und Erinnerungen, beide sind mehr als das andere.

Irgendwann lese ich diesen Absatz vielleicht noch einmal. Nächstes Jahr oder übernächstes oder in zwanzig Jahren, sollte ich dann noch leben.

Schon jetzt aber die Trauer, diesen Himmel, diese Wolken, diesen Amselschnabel und diesen Flieder nur einmal gesehen zu haben, und nie wieder, nie wieder so.

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